Ich möchte euch etwas sehr persönliches erzählen. Die Geschichte von meiner stillen Heldin.
Ich sollte grade eigentlich lernen. Doch wie fast immer, wenn ich diesen Satz sage oder ihn mir immer wieder selbst zuflüstere – vielleicht um mir selbst zu beweisen, wie furchtbar beschäftigt ich bin oder wie anstrengend mein Studentenleben doch mal wieder ist – steht das Gedankenkarussell nicht still.
Ich beschließe kurzerhand, mein Lernskript auf dem Notebook zu minimieren und ein neues Dokument zu öffnen, um festzuhalten, was mich beschäftigt. Irgendwie will ich nicht, dass diese Gedanken bloß meine Gedanken bleiben. Gefangen in einem Kopf, der es zwar hin und wieder schafft, über den eigenen Tellerrand zu blicken, unheimlich oft aber auch selbst feststeckt in Mustern, Selbstdarstellung, Gier und Selbstmitleid.
Was will ich eigentlich sagen? Welche Bilder oder Worte könnten das überhaupt adäquat beschreiben, wiedergeben?
Ich will es versuchen:
Ich schäme mich.
Schäme mich dafür, mein eigenes Leiden oft größer zu machen, als es eigentlich ist. Ich weiß wirklich nicht, warum ich das mache, weiß auch nicht oder warum DU (der jetzt diesen Text liest) das auch sooft tust. Ich weiß gar nicht, warum wir das alle überhaupt machen. Ich will dir sagen, warum ich mich dafür schäme.
Ich denke an eine Person, eine junge Frau, die ich mehr als mein halbes Leben kenne. Ohne ihren Namen zu nennen oder sie in irgendeiner Form darstellen zu wollen, stelle ich gerade fest, dass ich ihr unheimlich dankbar bin. Dankbar für eine Erkenntnis, die mich gerade ereilt, viel zu spät, viel zu schwammig.
Wofür ich dankbar bin?
Nun. Wir haben eigentlich nicht super viel Kontakt. Hin und wieder. Aber wir sehen uns regelmäßig, waren als Kinder gute Freundinnen und wir mögen uns. Wofür könnte ich dieser Person also dankbar sein?
Dafür, dass sie mir gezeigt hat und gerade zeigt, was es heißt, stark zu sein. Wirklich stark.
Sie ist krank. Sehr krank. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht – hoffe es aber – wann und ob sie jemals wieder richtig gesund wird. Sie ist seit Jahren krank. Es kam aus dem Nichts und niemand konnte es so richtig begreifen. Damals war es ein Schock für alle. Dieses junge Mädchen, das in ihrem Leben niemals nur ein böses Wort gesagt hat? Dieses Mädchen, das immer zu den Stilleren gehörte, aber immer und überall Herzlichkeit ausstrahlte? Unmöglich.
Doch irgendwann haben wir uns wohl daran gewöhnt, schätze ich. Haben uns daran gewöhnt, dass sie trotz allem immer normal ist und dass sie immer bei allem dabei ist. Dass sie kaum je ein Wort über ihre Krankheit und ihr Leiden verliert, sodass man vergisst, wie krank sie eigentlich ist. Wir haben uns daran gewöhnt, an sie mit ihrer Krankheit.
Fragen oft, wie es ihr geht. Meistens antwortet sie mit „gut“ oder erzählt kurz ein paar Neuigkeiten von Testergebnissen. So, als ob es auch zu ihrem Alltag geworden wäre. Als ob die Krankheit nun zu ihr gehören würde.
Was das für sie wirklich bedeuten muss, begreifen wir nicht. Wir stellen es uns vor, aber ein paar Wimpernschläge später – da haben wir es wieder vergessen und widmen uns unseren Mustern, unserer Selbstdarstellung, unserer Gier, unserem Selbstmitleid.
„Ich bewundere dich, Jojo“, sagte sie einmal zu mir und das klingt mir gerade in den Ohren wie das durchdringende Geräusch einer Pfeife, „für alles, was du machst. Du kannst so viel und machst alles gut. Das bewundere ich sehr!“
Damals machte mich dieses Kompliment verlegen. Ich kann nicht gut mit Komplimenten umgehen, deshalb sage ich meistens einfach nichts. Lächle nur.
Heute? Schäme ich mich dafür, dass ich nicht so wirklich geantwortet habe. Aber, wisst ihr, zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie sehr ich sie eigentlich bewundere. Ich wusste noch nicht, dass sie uns etwas zeigt, dass so viel mehr ist als alles, was ich angeblich kann und von dem ich auch selbst glaube, dass ich es eigentlich ganz gut kann.
Und deshalb habe ich mir überlegt, dass ich aufschreibe, was ich denke und dass ich ihr diesen Text dann schicke und ihr so zeige, wie sehr ich sie bewundere. Und wenn sie mag, ja, dann veröffentliche ich ihn, um vielleicht ein paar anderen die Augen zu öffnen für das, was manche im Stillen leisten.
Die stillen Helden.
Folgendes möchte ich ihr sagen:
An meine stille Heldin
„Du bist eine der stärksten Frauen, die ich kenne. Obwohl wir nicht ständig Kontakt haben, vielleicht sogar zwei grundverschiedene Menschen sind, bewundere ich dich. Weißt du, vielleicht bin ich etwas stumpf geworden, durch all das, was ich bei meinem Bruder an Leid und Krankheit mitbekommen habe, als er damals Leukämie hatte und durch all die Folgekrankheiten, die darauf folgten. Vielleicht kann ich – gerade, weil ich dieser Sache damals schon so nah war – mir nicht wirklich vorstellen, was du seit Jahren durchmachst. Auch mit aller Kraft und Phantasie (und davon hab ich reichlich), kann ich mir deine Schmerzen nicht vorstellen, mir deine Ängste nicht deutlich machen und einfach nicht sehen und fühlen, was du fühlen musst. Dafür schäme ich mich.
Ich will dich nicht bemitleiden, denn ich weiß, dass du das nicht willst oder brauchst.
Ich will dich auch nicht so behandeln, als wärst du kerngesund, denn ich weiß, dass dich auch das nicht wirklich weiterbringt. Was ich eigentlich will, ist dir sagen, wie sehr ich deinen Umgang mit deiner Krankheit schätze und wie sehr deine Demut und deine stille Stärke mich inspirieren und auch mir Kraft geben. Du stellst weder dich, noch deine Krankheit, noch euch beide auf irgendein Podest oder in irgendein Licht, obwohl du eigentlich eine Heldin bist. Eine Heldin im Stillen. Du ruhst dich nicht auf deiner Krankheit aus, lebst dein Leben, hast studiert, arbeitest und strahlst – trotz allem – wie selbstverständlich Güte, Herzlichkeit und Wärme aus.
Ich will dir sagen: Ich bewundere dich.
Und damit bin ich nicht allein. Soviel weiß ich. Und du – du bist auch nicht allein. Das verspreche ich.“

Warum ich das schreibe?
Weil ich es sagen will. Ich finde, es gehört gesagt, es gehört veröffentlicht. Ich habe mehrere Wochen gebraucht, bis ich mich traute, ihr den Text zu schicken. Ich hatte Angst davor, dass sie sich zu sehr bloßgestellt fühlen könnte. Ich hatte Angst, dass es sie zu sehr an ihren Schmerz erinnert. Aber sie? Hat mir gesagt, dass ich mich nicht schämen muss. Dass niemand sich schämen sollte, dafür, zu sehr mit sich und seinen eigenen Problemen beschäftigt zu sein. Dass sie niemals jemanden verurteilen würde, weil er nicht nachempfinden kann, wie es ihr geht. Und das jeder seine Päckchen zu trägen hätte. Größere, kleinere, schwere, leichte.
Sie wollte, dass ich den Text veröffentliche, sie wollte sogar, dass ich diese wunderschönen Fotos von uns dazu veröffentliche. Nicht, um irgendetwas darzustellen, sondern um euch daran zu erinnern: Genießt das Leben. Genießt jede Sekunde. Lasst 13 mal gerade sein und freut euch an allem, was ihr gerade habt.
Freut euch daran, eure Freunde und Familie zu sehen, freut euch an Kleinigkeiten, an Momenten. Freut euch daran, euch Ziele zu setzen und diese zu erreichen. Freut euch am Scheitern und lernt aus Fehlern. Freut euch über die Welt, die Natur, Sonnenuntergänge auf dem Balkon.
Freut euch am Leben. Ein zweites bekommt ihr nicht.
Und wann immer ihr wieder im Selbstmitleid und Ärger ertrinkt (ja, das tun wir alle dann und wann), dann erinnert euch:
Da draußen gibt es sie. Die stillen Helden. Die ohne zu klagen ihr Päckchen tragen. Lächeln. Und weitermachen.